Die Geschichte
von Werner Kohnen
22. Lebensbeispiele

1.
In der ersten Schulklasse musste ich erfahren, wie eine Mitschülerin am Splittingkanal in Papenburg ihren Ball aus dem Kanal zurückfischen wollte und dabei ertrank. Bis heute habe ich dieses Mädchen in einem schneeweißen Engelkleid im Gehirn.
2.
Desweiteren mussten im gleichen Jahr meine Eltern das gekaufte Haus am Deverhafen in Papenburg verkaufen wegen einer Maschinenreparatur ihres Schiffes „Emsland“.
3.
Zwischendurch bewirtschaftete ich bis zum 14. Lebensjahr einen kompletten Kleinstbauernhof mit sehr viel arbeitlicher Belastung sowie sehr viel Qual. Mit Pferd, 4 Kühen, 6 Schweinen, ein paar Schafen und 33 Hühnern, nicht zu vergessen einem niedersächsischen Kreuzgarten. Es wurde Torf gestochen und jeden Morgen Kleinholz gemacht. Neben der Schularbeit auch Tierfütterung etc..
4.
Mit 16 Jahren hatte ich einen Lehrherrn, der Spieß war in Stalingrad, Herrn Ernst Kunze aus Eilsleben, an der Saale, der mir sehr viele unschöne Geschichten erzählen konnte.
5.
Danach hatte ich einen 2. Lehrherrn, Herrn Breuer aus Dresden, der über 10.000 Leichen gelaufen war.
6.
In dieser Zeit hatte ich einen Matrosen, einen ehemaligen Berufsboxer der BerlinXer Liga, mit seiner Frau, die mit den Rathenau verwandt war und sich in der oberren Szene der Berlinder Herrschaft auskannte und durch Vertreibung aus den Ostgebieten arm geworden waren und somit ihr Brot auf dem Binnenschiff verdienten.
7.
Nicht vergessen möchte ich auch in unserer gesamten Schiffahrtszeit die Wortschläge aus den unteren Schichten,z.B. wenn wir Sackgut löschen mussten und Arbeiter vom Arbeitsamt morgens für 6- oder 8- Stunden-Schichten angeheuert wurden, um Säckeladung aus dem Schiff zu stauen und zu löschen, gerade aus dieser Schicht kam die urigste Sprache zu Tage. Die urigste Sprache der Welt, meiner Meinung nach, die mir heute noch in den Ohren liegt, mit ihrer gesamten Vielfalt. (z.B.: kiek is even’s, luren’s doar; na wat denn, icke mir Seefe koofen, lieber wasch ick mir nich!)
8.
Seekrankheit auf dem Vessel „Oster-Till“.
9.
Zu der Zeit bekam ich als Erster bei uns im Dorf einen Ford Taunus 17 M P 3, genannt „die Badewanne“. Einer der ersten Wagen, die mit Veloursstoff ausgestattet waren und alles in Seegrün.
10.
Die Freundschaften in der Eliteschule Homberg und später die vielen Schiffsjungen, die ich ausbilden durfte, dabei waren auch Söhne aus begüteten Familien.
11.
Desweiteren die Liebe zu meiner ersten Frau, die nach vier Jahren von mir gegangen ist und verschied. Danach musste ich ein knappes Jahr durch Totalfrakturen das Laufen wieder lernen. Ich hatte die Gnade, einen begnadeten Chirurgen zu haben, Dr. Dieter Müller aus Aurich. Was mir das Herz zerrissen hat, war der Umstand, dass ich meine Tochter Leni durch die Schifffahrt nicht selbst erziehen durfte, was mir eine Herzensangelegenheit war.
12.
Die großen Erfolge unter den Konzernen E.V.A.G./Renus/Stinnes/Krupp/Preussag, um einige zu nennen.
13.
Sehr entscheidend war auch das Loslassen von meinem Schiff „Hünenkönig“, um noch einmal im Leben nach den großen Erfolgen etwas anderes zu machen. Dies Loslassen vom Erfolg haben mich viele Menschen bitter entfernen lassen, so dass sie sich immer weiter entfernten.
14.
Die Tatsache, das Abitur nachzumachen und danach die schwere Selbstständigkeit zu wählen, in einer Sparte, die man vorher nicht gelernt hatte, und zwar das Handeln mit Materialien: Zuerst mit Erfolg in der Baustoffindustrie und umgewandelt zum Schiffsequipment.
15.
Desweiteren musste ich selbst miterleben, wie es ist, in einer Sparte Fuß zu fassen, die einem nicht gegönnt ist und einem Knüppel zwischen die erfolgreichen Beine geworfen werden.
16.
Dann die enorme Freude am Aufwachsen meiner Kinder und das Blühen meiner zweiten Frau, trotz der vielen Misserfolge.
17.
Das Gefühl, dass sich Langatmigkeit und eine ewige Geduld irgendwann auszahlen, und die Freude, dass es stetig, auch in kleinen Schritten vorwärts gehen kann. Das wiederum heißt auch, dass ich mir nie selber einen Rückwärtsgang erlaubt habe, der aber nun zum Lebensalter und Älterwerden zu erlernen ist, womit ich kein Problem habe, mit dem großen Thema Loslassen.
18.
Das Loslassen von
- der Jugend
- der Arbeit
- der Oldtimerszene
- den Lieben
- der Vergangenheit
Im Übrigen ist dies ein wichtiges Thema:
Das Loslassen am Ende des Lebens und das Loslassen von Arbeit, von Hab und Gut und das Loslassen vom High-Fidelity-Leben fällt jedem so schwer wie nur was. Das Loslassen von vielen sozialen Annehmlichkeiten.